Rezensionen zu
Rilke und die Religion

 

Ein Spiegel für spirituelle Sinnsucher

„Du darfst nicht warten, bis Gott zu dir geht und sagt:  Ich bin. Ein Gott, der seine Stärke eingesteht, hat keinen Sinn. Da mußt du wissen, daß dich Gott durchweht von Anbeginn, und wenn dein Herz dir glüht und nichts verrät, dann schafft er darin“, dichtet Rainer Maria Rilke 1898 während eines Aufenthalts in Viareggio. Mit diesem intensiven Gedicht setzt sich Rilke in Gegensatz zur christlichen Tradition, die in Gott einen allmächtigen Herrscher sieht. Rilke (1875-1926) spürt Gott als einen „immer schon im tiefsten Inneren“ Gegenwärtigen und Wirkenden. So entdeckt der Literaturwissenschaftler, Philosoph und Theologe Günther Schiwy in seinem neuen Buch Rainer Maria Rilke als einen Visionär, als einen Seismografen, als einen frühen Wegbereiter des Umbruchs im Gottesglauben und in der christlichen Spiritualität. Rilkes Gottessuche ist für Schiwy nicht nur exemplarisch durch die Befreiung aus engem, dogmatischem und statischem Kirchenglauben, der den Glauben mehr und mehr verkümmern läßt. Sie ist für ihn vielmehr auch ein Modell  für eine intensive und kreative Aneignung und Umgestaltung christlichen Glaubens zu einer existenziellen Spiritualität – getragen von spirituellem Hunger und Erleben. Schiwy: „ Sein Leben lang war Rilke  zwischen den etablierten Religionen und Kulturen auf der Suche nach Überlebenswahrheiten für sich und die Menschheit, nach  ‚Gott’, und er versuchte, das Rettende und Unsagbare in seine Dichtungen zu übersetzen.“ Günther Schiwy erschließt in einer einzigartig einfühlsamen und intensiv ansprechenden Deutung die Stationen, die Hintergründe und die Zusammenhänge, die Rilkes Auseinandersetzung mit der Religion ausmachen. Dabei zerpflückt  der Autor die Gedichte nicht, sondern schafft mit seinem hinführenden und für Verständlichkeit sorgenden Text für einen Rahmen, in dem die Gedichte wie stark leuchtende Bilder erscheinen. Es geht nicht um eine literaturhistorische Arbeit, auch wenn historische Kontexte beleuchtet werden. Es geht auch nicht um einen literaturkritischen Ansatz, selbst wenn Produktionsquellen und –situationen des Dichters sichtbar werden. Es geht darum, in Rilkes Leben, in Texten und Gedichten einen Spiegel für viele  heutige Menschen zu entdecken, die in ähnlicher Weise mit der Umgestaltung und der existenziellen Ausrichtung ihres Glaubens in spiritueller Suche befaßt sind. Rilke nimmt vieles vorweg. Die vereinnahmende Liebe seiner bigotten Mutter, die Zerrissenheit zwischen der Berufung zur Kunst und zur Sehnsucht nach einer freigiebigen Liebe, die Auseinandersetzung mit dem alten Kirchenglauben und der persönlichen Mystik, die Anregungen durch Begegnungen mit vielen inspirierenden Menschen seiner Zeit (Auguste Rodin, Paula Modersohn-Becker, Lou Andreas-Salomé, Friedrich Nietzsche), die direkt  gefühlte russische Spiritualität und die empfundene Klarheit des Islams, das Festhalten an einer ganz gewissen Spiritualität der Geschöpfe und der Schöpfung – all das  bringt Rilke in seine Dichtung ein  und ist dank Schiwy in ihr transparent, impulsiv und anrührend wahrzunehmen. So ist dem Buch eine rein sachliche Haltung unangemessen, vielmehr ist der Lesegewinn am größten, wenn man mit viel Zeit und Muße  [...] das Gelesene meditativ erwägt und mit der eigenen spirituellen Sehnsucht verbindet. Schiwy ist zu danken, ein Buch vorgelegt  zu haben, das weist, wozu ein Buch überhaupt in der Lage und worin es anderen Publikationsformen überlegen ist: der Seele Nahrung zu geben [...] eine Quelle der Inspiration und der Meditation, die das Buch Schiwys zum Sprudeln bringt.

NORBERT COPRAY in Publik-Forum, Nr. 24/2006